Wirklich erlebte ich Welzenbachers Architektur erst durch meine zahlreichen Besuche der Innen­räume seiner noch existierenden Häuser, im Rahmen der Recherchen für eine Ausstellung über Lois Welzenbacher im Jahr 1990, die von Othmar Barth und Friedrich Kurrent initiiert worden war. [1]

1978 war Leopold Gerstel Gastprofessor in Inns­bruck. Damals versuchte ich Gerstel auf Welzen­bacher aufmerksam zu machen. Sein kurzer Kommentar: „Ja – ein bisschen Mendelsohn“. Ver­ mutlich dachte er an Mendelsohns „Rundungen“ und an den so genannten „internationalen Stil“. Eigentlich eine naheliegende „Irreführung“, die oft dann passiert, wenn die Bauten von Welzenbacher ausschließlich anhand der fast zu schönen Fotos beurteilt werden, ohne sie vor Ort – vor allem ohne auch die Innenräume und deren Blickdramatur­gien – besucht zu haben. Selbst die Filme von Lukas Schaller für die aktuelle Ausstellung sind nur Annäherungen.

Anlässlich eines Vortrags von Ram Karmi, einem Freund von Leopold Gerstel, besuchte ich mit den beiden Herren unangemeldet das Haus Welzenbachers in Absam. Grete Welzenbacher empfing uns herzlich und die beiden, Ram Karmi fast so groß wie ein Bär, traten im obersten Geschoß hinaus durch die 180 cm niedere Tür auf den kleinen, hoch mit zwei Holzsäulen über­dachten Balkon, schauten lange hinaus in die weite Landschaft Richtung Innsbruck und waren ganz ruhig.

Die für mich unvergleichliche Kunst Lois Welzenbachers, die in seinen kleinen Architektur­organismen, in unterschiedlichen, auch gängigen Architektursprachen seiner Zeit eigentlich die Landschaft verwandeln, wird zwar ansatzweise von ihm in einem seiner Texte thematisiert –
„Die Natur selbst ist keine Attrappe um das Haus herum, sondern das Haus selbst ist als Sonne atmender Organismus aufzufassen, mit seinen Or­ganen den Tageszeiten zugewandt, gelockert in den Gliederungen des Grundrisses, mit großen Ausblicken auf die Landschaft, ein gleichsam zum Wesen erhobener Schnittpunkt all des Schönen außen….“ – , aber die simple Formulierung „mit großen Ausblicken auf die Landschaft“ vermittelt nicht wirklich seine präzisen Konzepte, unterschied­liche, komplex mit dem Grundriss des Hauses ver­- oder eingewobene Übergangszonen zu schaf­fen, die es vermögen, die Landschaft mit dem Haus zu verknüpfen, als wäre sie Teil des Haus­organismus.

Man muss im Haus Settari nach dem Spiral­weg durch das Haus aus dem in sich ruhenden Schlafzimmer auf den in der Rundung geborgenen, kleinen runden Balkon hinaustreten, und, ausge­setzt vor der Mauer, auf den Langkofel schauen. Oder im Haus Rosenbauer erfahren, wie durch das runde, weit auskragende Obergeschoß der Blick aus dem Erdgeschoß „hinuntergedrückt“ wird zu der in leichtem Schwung verlaufenden Donau – als wäre der Fluss ein Teil der Komposition. Oder sich im Haus Heyrovsky bewegen und sich hinter gerundeten Raumschichten verbunden fühlen
mit dem See, der unten „vorbeizieht“, um dann in ruhender Position nur auf den gekrümmten Raum bezogen zu sein. Oder sich im ehemaligen Turm­hotel Seeber hinaufschrauben, um dann, geschützt durch eine geschlossene Brüstung, auf einem Holzrost stehend, ganz mediterran, schräg über die ausgeblendete Stadt Hall zu den Stubaier Gletschern zu schauen. Ähnlich war vielleicht auch die Erfahrung auf dem Flachdach der im 2. Welt­krieg zerstörten Villa Treichl [2] – konnte man, geschützt durch das von einer dünnen Säule ge­ haltene Flugdach, den Blick richten ins weiche Mittelgebirge mit der Nockspitze über den Berg­iseleinschnitt auf die Serles. Man muss im Haus Proxauf, das in leichtem Schwung zwei großen Platanen links und rechts einer Kapelle ausweicht, aus dem diese Bewegung begleitenden Gang ins Wohnzimmer treten und weiter unter das breite Vordach hinaus auf die Terrasse, die nach Inns­bruck schaut. Oder in einem viel zu großen Erker oben am Eck eines Hauses in Feldkirch sitzen und auf die abgerundeten historischen Wehrtürme und die von Welzenbacher geplanten Turmhelme der ehemaligen Festhalle schauen, die Stadt und Schattenburg plastisch verknüpfen.

Friedrich Achleitner schreibt in dem Buch über Lois Welzenbacher [3]: „Der Vergleich ist sicher weit hergeholt, aber es gibt in alten afrikanischen Kulturen den Brauch, daß der Bauende zuerst einige Tage und Nächte auf dem ausgewählten Bauplatz verbringt, um die positive oder nega­tive Reaktion der anwesenden (besitzenden) Geister zu erfahren und sie gegebenenfalls zu ver­söhnen. Diese magische Handlung hatte sicher auch den praktischen Zweck, den Bauplatz genau kennenzulernen, um seinen Gegebenheiten maximal entsprechen zu können. Welzenbacher hat dieses In­Kontakt­Treten als wesentlichen Teil der Entwurfsvorbereitungen angesehen. Es wird sogar berichtet, daß er verschiedene Blick­linien ‚auf den Kopf gestellt’ (also zwischen den gespreizten Beinen durchblickend) verfolgte. In dieses Geheimnis hat er jedoch niemanden ein­ geweiht.“


Ich glaube, „die auf den Kopf gestellten Blick­linien“ waren nicht der Beweggrund, zwischen die gespreizten Beine zu schauen, eher – wenn über­ haupt – vermute ich, dass es ihm um die Simula­tion der Wahrnehmung aus einem Innenraum ging. Nicht der Blick durch die Hände, sondern eben durch das „Mauerfenster“ der beiden Oberschenkel kann durch diese Körperhaltung einen Blick aus einem Innenraum vermitteln und dies könnte Wel­zenbacher durchaus ruhig wie konzentriert geprüft haben. Die ganzheitliche Arbeitsweise Welzen­bachers zwischen der skizzierenden Hand, dem Hirn und seinem Körper kann aber natürlich nur anekdotisch angedeutet werden.

Seine Organismuserfindungen, die immer in Bewegung erlebt werden, zeigen sich auf den ersten Blick vielleicht in „regionalem“ oder „inter­ nationalem“ Stil. Jedes Detail ist jedoch ohne Rückgriffe auf bekannte Stilelemente, ganz aus der architektonischen Gesamtkonzeption ent­ wickelt und oft wieder eine „Erfindung“ im kleinen Maßstab. [4]

In Aldrans bei Innsbruck fand ich einen Torpfei­ler. [5] Wer macht einen Torpfeiler in dieser bäuerli­chen Umgebung – und wie? Dort steht ein „echter“ Welzenbacher, diesmal ausnahmsweise durch ein Foto vermittelbar. Unscheinbar und gleichzeitig radikal. Wie ein Plastilinmodell in groben Beton gegossen. Drei Teile: eine runde, schlampige Stele, ein schlampiger, annähernd kegelstumpfartiger „Abweiser“ an den Füßen des Pfosten und ein flacher, scheibenförmiger „Patzen“ als Abdeckung. Alles wie durch ein Wunder noch erhalten. Am gleichen Grundstück findet man zur Straße hin eine betonierte Gartenmauer. Sie ist in ihrer einfachen Komplexität nicht beschreibbar. Hier muss das Foto sprechen. Beides würde ich unter Denkmalschutz stellen.

Rainer Köberl, September 2019


1 Der Katalog zur Ausstellung „Lois Welzenbacher 1889–1955 Architekturmodelle“, die in Innsbruck in der Kunsthalle von Johannes Atzinger in der Maria-Theresien-Straße und in München in der Villa Stuck gezeigt wurde, ist als pdf-file auf www.loiswelzenbacher.at zu finden.
2 Ein anderer Aspekt von Welzenbachers Bauten: Josef Lackner hat oft erzählt, dass ihn die Villa Treichl, das „weiße Fanal“ in der Friedhofsallee, sehr geprägt und ihn zum Studium der Architektur animiert hat.
3 Das 1968 erschienene Buch „Friedrich Achleitner, Ottokar Uhl: Lois Welzenbacher 1889–1955“ ist als pdf-file auf www.loiswelzenbacher.at zu finden. Das in jeder Hinsicht ausgezeichnete Buch könnte man eigentlich unverändert neu drucken und es würde genau so wie damals seine Gültigkeit besitzen.
4 Hier sei auf die umfangreichen Maßaufnahmen vieler Möbeleinbauten durch Joachim Moroder, langjähriger Assistent bei Othmar Barth, hingewiesen.
5 Gut Bärhof in Aldrans, 1920–22

1, 2 Fotos Lukas Schaller
3, 4 Fotos Rainer Köberl


Dieser Text erschein erstmals in der aut-Info 4/2019.